Saturday, October 11, 2014

11/10/2014

“Bist du farbenblind oder einfach blöd?”

Die Frage klang laut und bedrohend in meinen Ohren. Ein weiterer Beweis dafür, dass die Deutschen zutiefst begabt sind, farbige Ausdrücke leicht von der Zunge gehen zu lassen. Auch wenn das Thema monochrom ist. Ich sagte nichts, hielt die Ohren steif, und überfuhr die rote Fußgängerampel auf meinem Fahrrad.

Die Worte meines redegewandten Gesprächpartners sind mir aber geblieben. Einige Minuten suchte ich eine pfiffige Antwort, wie immer wenn ich plötzlich konfrontiert mit einer Frage oder Aussage bin, die mich ins Scheudern bringt. Ich arbeitete Retourkutsche nach Retourkutsche in meinem Kopf aus, aber ich konnte das faustische Gespenst dieses gesetzestreuen Fußgängers nicht überlisten. ‘Ja, ich bin farbenblind” schien mir auf den ersten Blick furchtbar schlau – eine kurze Überlegung reichte zu sehen, wie blöd (und deshalb ironisch) dieses Antwort gewesen wäre. Letzten Endes hat die Wahrheit mir gedämmert – er hatte Recht.

Das heißt nicht, dass ich nie mehr rote Ampeln überfahren werde. Es ist allerdings schwer, eine Position mündlich zu verteidigen, wenn es offensichtlich und zu Recht illegal ist. Das war nicht ein flegelhafter Spott seitens eines besoffenen Passant, sondern Empörung über ein Schwerverbrechen, und ich war der Schuldiger. Aber inwiefern? Diese Empörung hatte seinen Ursprung in reiner Autoritätshörigkeit, statt in einem echten moralischen Grund. Es war spät und die Straße war leer – vielleicht ist es genauso blöd gegen das Gesetz zu verstoßen wie eine Regel blind und einsichtslos anzuwenden. Weil es klar ist, dass die schwarz-weiße Handlung meines farbebegierigen Freundes an der bunteren Realität vorbeigeht. (Da habe ich endlich meine Retourkutsche!)

In einzigartiger Weise in der Welt sind Fußgängerampeln ein wichtiges Teil des nationalen Dialogs hier in Deutschland. Die Deutschen weisen oft auf die merkwürdige Entscheidung der Ostdeutschen hin, nach dem Mauerfall ihre alten Ampelmännchen zu behalten. Die östliche Ampel dient als eine Ahnung, dass die Erinnerung der Lebensordnung unter Kommunismus nie auszulöschen ist. Aber was für mich noch merkwürdiger ist, ist etwas, das aus meiner Erfahrung überall in Deutschland gilt: es gibt immer zwei rote Ampeln, und nur eine grüne. 

Das duldet keinen Widerspruch.

Getreu diesem visuellen Hinweis findet man die gehorsamste Fußgänger der Welt in Deutschland. Egal ob es keine Autos für fünfhundert Meter gibt: wenn die Ampel rot ist, geht man nicht. Oder vielmehr: wenn die Ampeln rot sind. Weil die Deutschen wissen, was noch stärker als eine rote Ampel ist, ist zwei rote Ampeln. Jedenfalls ist diese bemerkenswerte Gehorsamkeit Wasser auf Heinrich Manns “Untertan” Mühle und leichte Beute für so einen unwissenden Teilzeitsoziowissenschaftler wie mich.


Für so einen Untertan hatte ich diesen Fußgänger gehalten. Allerdings muss ich zugeben, dass ich unsicher bleibe, ob die Frage tatsächlich böse gemeint war. Die eine Person unter meinen Freunden, die teilweise farbenblind ist, ist auch deutsch – und ich habe wenige deutschen Freunde. Vielleicht ist es eine besonders häufig vorkommende Benachteiligung in diesem Land? In der Tat würde das auch die doppelte rote Ampeln erklären – die sind dann für die Millionen der Deutsche, die farbenblind sind, und wissen statt der Farben dass zwei bedeutet “halt” und eins bedeutet “geh”. Ja, jetzt bin ich überzeugt davon – die Frage wurde mit den besten Absichten gestellt, und ging nur aus seiner Neugierde hervor. Noch ein Rätsel gelöst im Land der alten Brüstungen.

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